Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Sorgerechtsentscheidung des OLG Naumburg in Sachen Görgülü
Erneut hat das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung des 14. Senats des Oberlandesgerichts (OLG) Naumburg beanstandet. Dieses hatte den Sorgerechtsantrag des Beschwerdeführers (Bf) für sein nichteheliches Kind abgewiesen. Die 1. Kammer des Ersten Senats stellte fest, dass die Entscheidung des OLG Naumburg den Bf in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (Elternrecht) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (Bindung an Gesetz und Recht) verletzt und wies die Sache an einen anderen Familiensenat des OLG Naumburg zurück.
Der Beschwerdeführer (Bf) ist der Vater eines 1999 nichtehelich geborenen Kindes. Die
Mutter willigte sogleich nach der Geburt in die Adoption des Kindes ein, das seither bei Pflegeeltern lebt. Nachdem auf Betreiben des Bf seine Vaterschaft gerichtlich festgestellt worden war, bemühte er sich in
verschiedenen gerichtlichen Verfahren erfolglos um die Übertragung des
Sorgerechts und um die Einräumung eines Umgangsrechts. Auf seine
Individualbeschwerde stellte der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) mit Urteil vom 26. Februar 2004 fest, dass die
Sorgerechtsentscheidung und der Ausschluss des Umgangsrechts eine
Verletzung von Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)
darstellten. Dennoch wies der 14. Senat des OLG Naumburg den
Sorgerechtsantrag des Bf zurück, da dem Urteil des EGMR keine
Bindungswirkung zukomme. Die gegen den Beschluss des OLG gerichtete
Verfassungsbeschwerde (Vb) des Bf war erfolgreich.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Das OLG Naumburg hat das Urteil des EGMR nicht hinreichend beachtet.
1. Ein nationales Gericht hat die Rechtsprechung des EGMR grundsätzlich
zu berücksichtigen (vgl. Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04
–; Pressemitteilung Nr. 92/2004 vom 19. Oktober 2004). Die Anwendung von
Art. 8 EMRK in der Auslegung des EGMR führt auch nicht zu Ergebnissen,
die mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Der EGMR hat ausgeführt, das
OLG hätte prüfen müssen, ob es Möglichkeiten der Zusammenführung gibt,
die das Kindeswohl weniger belasten. Außerdem hätten auch die
langfristigen Auswirkungen einer Trennung des Kindes von seinem
leiblichen Vater berücksichtigt werden müssen. Dies steht im Einklang
mit dem Grundgesetz. Bei der Entscheidung, unter welchen Voraussetzungen
ein Kind zum Zwecke des Umzugs zu seinen leiblichen Eltern aus einer
Pflegefamilie herausgenommen werden kann, ist – auch nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – dem Elternrecht, der
Grundrechtsposition des Kindes und dem Grundrecht der Pflegefamilie
Rechnung zu tragen. Bei der Abwägung muss das Wohl des Kindes letztlich
bestimmend sein. Zur Gewährung dieses Grundrechtsschutzes muss das
gerichtliche Verfahren geeignet sein, eine möglichst zuverlässige
Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen.
2. Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des OLG nicht gerecht. Das
OLG vertritt zu Unrecht die Auffassung, dass das Urteil des EGMR für die
nationalen Gerichte unverbindlich sei. Zudem hat es verkannt, dass es
nicht darauf ankommt, ob die Entscheidung des EGMR die Rechtskraft der
beanstandeten Entscheidung des OLG beseitigt. Denn in
Sorgerechtsverfahren ist für den Einwand der rechtkräftig entschiedenen
Sache kein Raum. Die Fürsorge gegenüber dem Minderjährigen hat stets
Vorrang vor der Endgültigkeit einer einmal getroffenen Entscheidung.
Eine abändernde Entscheidung setzt triftige, das Kindeswohl nachhaltig berührende Gründe voraus. Es ist jedoch anerkannt, dass auch eine Änderung der Rechtsprechung einen Abänderungsgrund bedeuten kann. Das OLG hat verkannt, dass in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung des EGMR zu berücksichtigen ist.
Schließlich hat sich das OLG auch nicht damit auseinandergesetzt, wie
Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (Elternrecht) in einer den völkerrechtlichen
Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsprechenden Weise
hätte ausgelegt werden können. So hat es sich nicht hinreichend mit der
vom EGMR aufgeworfenen Frage befasst, welche langfristigen Auswirkungen
eine dauerhafte Trennung des Kindes von seinem Vater hat und ob es das
Kindeswohl weniger belastende Möglichkeiten der Zusammenführung gibt. Um
einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls durch eine sofortige
Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie entgegenzuwirken, wäre
beispielsweise denkbar gewesen, dem Bf zwar das Sorgerecht zu
übertragen, dies aber mit einer Verbleibensanordnung zugunsten der
Pflegefamilie zu verbinden. Schließlich hat das OLG auch nicht die
erforderlichen Ermittlungen durchgeführt, um die vom EGMR aufgeworfenen
Fragen beantworten zu können. Die Pädagogin K., auf deren Stellungnahme
das OLG seine Entscheidung stützt, hat den Bf selbst nicht in ihre
Untersuchungen einbezogen. Da es sich außerdem um eine vom
Landesjugendamt in Auftrag gegebene Stellungnahme handelt, die als
Parteigutachten zu qualifizieren ist, wäre die Einholung eines
Gutachtens eines unabhängigen Sachverständigen geboten gewesen. Zudem
hat sich das OLG - soweit ersichtlich - zu keiner Zeit einen
persönlichen Eindruck von den Beteiligten verschafft.
Angaben zum Gericht:
- Gericht:Bundesverfassungsgericht
- Entscheidungsart:Beschluss
- Datum:05.04.2005
- Aktenzeichen:1 BvR 1664/04
Quelle:Pressemitteilung Nr. 34/2005 des BVerfG vom 20.04.2005