EGMR: Bild-Berichterstattung über Kokainbesitz eines bekannten Schauspielers zulässig
Untersagung der Berichterstattung verstößt gegen Recht auf freie Meinungsäußerung
Die Berichterstattung über das Privatleben Prominenter ist dann zulässig, wenn sie von allgemeinem Interesse ist und in angemessenem Verhältnis zur Achtung des Privatlebens steht. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die Berichterstattung über den Kokainbesitz eines bekannten Schauspielers ist daher zulässig. Der Schauspieler ist als Person des öffentlichen Lebens anzusehen, wodurch der Öffentlichkeit ein Anspruch auf Information über die Festnahme und das Verfahren zusteht. Die von den Deutschen Gerichten verfügte Untersagung der Berichterstattung stellt nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Verletzung von Artikel 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dar.
Beschwerdeführerin des zugrunde liegenden Streitfalls ist die Axel Springer AG (“Springer”). Die von Springer herausgegebene Bild-Zeitung veröffentlichte im September 2004 auf ihrer Titelseite
einen Artikel über die Festnahme eines bekannten Fernsehschauspielers, in einem
Zelt auf dem Münchner Oktoberfest, wegen Kokainbesitzes. Der Artikel war mit drei
Fotos des Schauspielers illustriert und wurde im Innenteil fortgesetzt. Darin wurde erwähnt, dass der Schauspieler der seit 1998 die Rolle eines Kommissars in einer beliebten TV-Serie spielte, bereits im Juli 2000 wegen Drogenbesitzes zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden
war. In einem zweiten Artikel im Juli 2005 berichtete die Bild-Zeitung, dass der Darsteller nach
einem Geständnis wegen illegalen Drogenbesitzes zu einer Geldstrafe verurteilt wurden
war.
Schauspieler beantragt einstweilige Verfügung gegen Springer Verlag
Nach Erscheinen des ersten Artikels beantragte der Schauspieler beim Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen Springer. Das Gericht gab dem Antrag statt und
untersagte dem Verlag jede weitere Veröffentlichung des Artikels und der Fotos. Das
Oberlandesgericht Hamburg bestätigte die einstweilige Verfügung im Juni 2005
betreffend den Artikel. Im Hinblick auf die Fotos war Springer nicht in Berufung
gegangen.
Gericht untersagt fast komplette Veröffentlichung des Artikels unter Androhung eines Ordnungsgeldes
In einem Urteil vom November 2005 untersagte das Landgericht Hamburg jede weitere
Veröffentlichung des nahezu vollständigen Inhalts des ersten Artikels unter Androhung
eines Ordnungsgeldes und verurteilte Springer zur Zahlung einer Vertragsstrafe für die
Veröffentlichung des Artikels. Das Gericht befand insbesondere, dass das Recht des Schauspielers auf Achtung seines Privatlebens das öffentliche Interesse an der Information überwiege, obwohl die Wahrheit des Berichts der Bild-Zeitung nicht in Frage stehe. Es sei in dem Fall nicht um eine schwere Straftat gegangen und es gebe kein besonderes Interesse der
Öffentlichkeit, über das Vergehen des Mannes Bescheid zu wissen. Das Urteil wurde vom
Oberlandesgericht Hamburg sowie, im Dezember 2006, vom Bundesgerichtshof
bestätigt.
Bundesverfassungsgericht lehnt Beschwerde des Axel Springer Verlags ab
In einem weiteren Verfahren bezüglich des zweiten Artikels über die Verurteilung des Schauspielers gab das Landgericht Hamburg der Klage des Schauspielers mit der im Wesentlichen gleichen Begründung statt wie in seinem Urteil bezüglich des ersten Artikels. Das Urteil wurde vom Oberlandesgericht Hamburg sowie, im Juni 2007, vom Bundesgerichtshof
bestätigt. Im März 2008 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, eine Verfassungsbeschwerde Springers gegen diese Urteile zur Entscheidung anzunehmen.
Axel Springer Verlag rügt Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung
Unter Berufung auf das Recht zur freien Meinungsäußerung (Artikel 10 EMRK) rügte die Axel Springer AG die gerichtliche Verfügung gegen die weitere Veröffentlichung der beiden Artikel.
Die Beschwerde im Verfahren Axel Springer AG wurde am 18. August 2008 beim
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.
Entscheidungen deutscher Gerichte stellt Eingriff in Recht auf freie Meinungsäußerung dar – Eingriff verfolgte aber legitimes Ziel
Zwischen den Parteien war unstreitig, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte
einen Eingriff in Springers Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 darstellten.
Weiterhin war unstreitig, dass dieser Eingriff nach deutschem Recht gesetzlich
vorgesehen war und ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz des guten Rufs anderer,
verfolgte.
Öffentlichkeit hat bei Personen des öffentlichen Lebens Anspruch auf Informationen aus der Justiz
Im Hinblick auf die Frage, ob der Eingriff notwendig in einer demokratischen Gesellschaft
war, stellte der Gerichtshof fest, dass die strittigen Artikel über die Festnahme und
Verurteilung des Schauspielers öffentlich zugängliche Informationen aus der Justiz
betrafen, an denen die Öffentlichkeit ein Interesse hatte. Grundsätzlich ist es Sache der
nationalen Gerichte, zu beurteilen, wie bekannt eine Person in der Öffentlichkeit ist,
besonders wenn es sich, wie im Fall des betroffenen Schauspielers, um eine vor allem in
einem Land bekannte Persönlichkeit handelt. Das Hamburger Oberlandesgericht war der
Auffassung, dass der Schauspieler, der über einen längeren Zeitraum die Rolle eines
Kommissars gespielt hatte, bekannt und sehr beliebt sei. Der Gerichtshof
schlussfolgerte, dass der Schauspieler bekannt genug war, um als Person des
öffentlichen Lebens zu gelten, was den Anspruch der Öffentlichkeit, über seine
Festnahme und das Verfahren gegen ihn informiert zu werden, bekräftigte.
Zwar stimmte der Gerichtshof der Einschätzung der deutschen Gerichte im Wesentlichen
zu, dass das Interesse Springers an der Veröffentlichung der Artikel lediglich auf eben
die Tatsache zurückzuführen war, dass es sich um das Vergehen eines bekannten
Schauspielers handelte, über das die Bild-Zeitung kaum berichtet hätte, wenn es von
einer der Öffentlichkeit unbekannten Person begangen worden wäre. Der Gerichtshof
hob aber hervor, dass der Schauspieler öffentlich auf dem Münchner Oktoberfest
festgenommen worden war. Da er zuvor in Interviews Einzelheiten aus seinem
Privatleben preisgegeben hatte, konnte er zudem nur in beschränktem Maße darauf
vertrauen, dass seine Privatsphäre wirksam geschützt würde.
Ausreichende sachliche Grundlage und Wahrheitsgehalt der Artikel unstrittig
Nach den Aussagen einer beteiligten Journalistin, deren Wahrheitsgehalt die deutsche
Bundesregierung nicht in Frage stellte, hatte die Bild-Zeitung die in dem Artikel vom
September 2004 veröffentlichten Informationen über die Festnahme des Schauspielers
von der Polizei und der Staatsanwaltschaft München erhalten. Die veröffentlichten
Angaben hatten also eine ausreichende sachliche Grundlage und der Wahrheitsgehalt
beider Artikel war zwischen den Parteien nicht strittig.
Abwägung zwischen Interesse der Öffentlichkeit an Informationen und Recht des Schauspielers auf Achtung des Privatlebens von Verlag vorgenommen
Nichts wies darauf hin, dass Springer keine Abwägung zwischen seinem Interesse, diese
Informationen zu veröffentlichen, und dem Recht des Schauspielers auf Achtung seines
Privatlebens vorgenommen hätte. Da die Staatsanwaltschaft Springer gegenüber die
fraglichen Angaben bestätigt hatte, gab es für den Verlag keine hinreichenden Gründe
anzunehmen, er hätte die Anonymität des Schauspielers zu wahren. Es konnte folglich
nicht behauptet werden, Springer habe in böser Absicht gehandelt. In diesem
Zusammenhang unterstrich der Gerichtshof, dass die Staatsanwaltschaft alle von
Springer in dem ersten Artikel preisgegebenen Informationen gegenüber anderen
Zeitschriften und Fernsehsendern bestätigt hatte.
Gerichtshof bejaht Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung
Der Gerichtshof wies außerdem darauf hin, dass die Artikel keine Einzelheiten aus dem
Privatleben des Schauspielers preisgegeben hatten, sondern im Wesentlichen über die
Umstände seiner Festnahme und den Ausgang des Verfahrens gegen ihn berichteten. In
den Artikeln wurden keine herabwürdigenden Ausdrücke verwendet oder unbegründete
Behauptungen aufgestellt, und die Bundesregierung hatte nicht dargelegt, dass die
Veröffentlichung der Artikel schwerwiegende Folgen für den Schauspieler gehabt hätte.
Die Sanktionen gegen Springer waren zwar mild, aber trotzdem dazu geeignet, eine
Pressemitteilung abschreckende Wirkung dem Verlag gegenüber zu entfalten. Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass die dem Verlag auferlegten Beschränkungen in keinem
angemessenen Verhältnis zu dem legitimen Ziel standen, das Privatleben des
Schauspielers zu schützen. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 10 vor.
Deutschland zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt Der Gerichtshof entschied, dass Deutschland der Axel Springer AG 17.734,28 Euro für
den erlittenen materiellen Schaden und 32.522,80 Euro für die entstandenen Kosten zu
zahlen hat.
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Angaben zum Gericht:
- Gericht:Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
- Entscheidungsart:Urteil
- Datum:07.02.2012
- Aktenzeichen:39954/08
Quelle:Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online