Abweisung von Klagen mutmaßlich leiblicher Väter zur Anfechtung der Vaterschaft verstößt nicht gegen Europäische Menschenrechtskonvention
Gesetzgeber darf bestehendem Familienverband zwischen Kind und rechtlichem Vater Vorrang vor Beziehung zwischen Kind und leiblichem Vater einräumen
Die Abweisung von Klagen mutmaßlicher leiblicher Väter zur Anfechtung einer Vaterschaft durch deutsche Gerichte stellt keine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8) und auch keine Verletzung des Diskriminierungsverbot (von Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14) der Europäischen Menschenrechtskonvention dar. Biologische Väter haben demnach keinen Anspruch auf Anerkennung der Vaterschaft, sofern das Kind einen anderen juristischen Vater hat. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Der Beschwerdeführer im ersten Verfahren, Denis Ahrens, geboren 1970, lebt in Berlin.
Der Beschwerdeführer im zweiten Verfahren, Heiko Kautzor, geboren 1971, lebt in
Willich. Beide sind deutsche Staatsangehörige.
Sachverhalt im Fall Denis Ahrens
Denis Ahrens ging davon aus, Vater einer im August 2005 geborenen Tochter zu sein,
mit deren Mutter, Frau P., er eine Beziehung gehabt hatte. Zur Zeit der Empfängnis lebte
Frau P. mit einem anderen Mann, Herrn M., zusammen, der die Vaterschaft für das Kind
anerkannte. Das Paar hat das gemeinsame Sorgerecht und kümmert sich gemeinsam
um das Kind. Im Oktober 2005 erhob Denis Ahrens Klage wegen Anfechtung der
Vaterschaft von Herrn M. und gab eine eidesstattliche Versicherung ab, er habe während
der Empfängniszeit intime Kontakte mit Frau P. gehabt. Herr M. machte geltend, er
übernehme die volle elterliche Verantwortung für das Kind, selbst wenn er nicht der
leibliche Vater sei.
Kammergericht Berlin verneint Recht auf Anfechtung der Vaterschaft von Herrn M.
Nach Anhörung aller Parteien stellte das Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg mit Urteil
vom April 2007 fest, dass Denis Ahrens leiblicher Vater des Kindes sei. Das Gericht
berücksichtigte ein Sachverständigengutachten sowie das Ergebnis eines Bluttests, der
Denis Ahrens biologische Vaterschaft nachwies, und kam zu der Auffassung, dass er
nicht an der Anfechtung der Vaterschaft von Herrn M. gehindert sei. Im August 2007 hob
das Kammergericht Berlin das Urteil des Amtsgerichts auf und befand, dass Denis Ahrens
kein Recht habe, die Vaterschaft anzufechten, da zwischen Herrn M. und dem Kind eine
sozial-familiäre Bindung bestehe, die andauere, obwohl erwiesen sei, dass Herr M. nicht der leibliche Vater sei. Im Mai 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die
Verfassungsbeschwerde von Denis Ahrens zur Entscheidung anzunehmen.
Sachverhalt im Fall Heiko Kautzor
Heiko Kautzor ging davon aus, Vater der im März 2005 geborenen Tochter seiner
ehemaligen Ehefrau, Frau D., zu sein. Frau D. lebt mit einem neuen Partner, Herrn E.,
zusammen, der die Vaterschaft für das Kind im Mai 2006 anerkannte. Später bekam das
Paar zwei weitere Kinder und heiratete. Heiko Kautzor teilte seiner ehemaligen Ehefrau
mit, dass er Umgang mit dem Kind wünsche und beabsichtige, die Vaterschaft
anzuerkennen.
Deutsche Gerichte weisen Abstammungsuntersuchung zurück und verneinen Anspruch auf Anfechtung der Vaterschaft von Herrn E.
Im Juli 2006 reichte er beim Amtsgericht Bielefeld Klage auf Feststellung
seiner Vaterschaft ein und erweiterte die Klage im Folgenden um einen Antrag auf
Anfechtung der Vaterschaft von Herrn E. Nach Anhörung der Parteien einschließlich des für das Kind bestellten Verfahrenspflegers wies das Amtsgericht die Anträge Heiko Kautzors mit Urteil vom Juni 2008 zurück. Das Gericht befand, dass er von der Vaterschaftsanfechtung ausgeschlossen sei, weil eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater Herrn E. bestehe. Da das Kind einen rechtlichen Vater habe, habe Heiko Kautzor auch kein Recht auf Feststellung seiner Vaterschaft durch einen Gentest. Das Oberlandesgericht wies seine Berufung im Dezember 2008 zurück. Auf eine Anhörungsrüge Heiko Kautzors bestätigte das Oberlandesgericht, dass er nach den maßgeblichen Bestimmungen des BGB in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts auch nicht berechtigt sei, eine Abstammungsuntersuchung einzufordern, ohne dass seine rechtliche Vaterschaft
festgestellt würde. Im Juni 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die
Verfassungsbeschwerde Heiko Kautzors zur Entscheidung anzunehmen.
Väter fühlen sich durch Entscheidungen der Gerichte diskriminiert und reichen Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein
Unter Berufung auf Artikel 8 für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14 rügten
beide Beschwerdeführer die Entscheidungen der deutschen Gerichte, ihre Klagen zur
Anfechtung der Vaterschaft zurückzuweisen, und machten geltend, dass sie im
Verhältnis zur Mutter, zum rechtlichen Vater und zum Kind diskriminiert würden.
Die Beschwerde von Denis Ahrens wurde am 18. August 2009 und die Beschwerde Heiko
Kautzors am 30. April 2009 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
eingelegt. Im Fall Ahrens erhielten Frau P. und Herr M., die rechtlichen Eltern der
leiblichen Tochter des Beschwerdeführers, die Erlaubnis, als Drittpartei eine
Stellungnahme einzureichen.
EGMR bejaht Eingriff in Recht auf Achtung des Privatlebens, verneint jedoch Eingriff in Recht auf Achtung des Familienlebens
In beiden Fällen kam der Gerichtshof zu der Auffassung, dass die Entscheidungen der
deutschen Gerichte, die Anträge der Beschwerdeführer auf Feststellung der rechtlichen
Vaterschaft für ihr leibliches bzw. mutmaßlich leibliches Kind zurückzuweisen, einen
Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens nach Artikel 8 darstellten. Gleichzeitig befand der Gerichtshof, dass diese Entscheidungen keinen Eingriff in ihr Recht auf
Achtung des Familienlebens im Sinne von Artikel 8 bedeuteten, da niemals eine enge
persönliche Bindung zwischen den Beschwerdeführern und den Kindern bestanden hatte.
In einem anderen Fall, Anayo gegen Deutschland, hatte der Gerichtshof eine Verletzung von Artikel 8 aufgrund der Weigerung der deutschen Gerichte festgestellt, einem Mann Umgang mit seinen leiblichen Kindern zu gewähren, da er nie eine sozial-familiäre Bindung zu ihnen gehabt habe. Die von Denis Ahrens und Heiko Kautzor erhobenen Klagen hatten jedoch ein weitreichenderes Ziel: Sie waren auf ihre vollständige
Anerkennung als rechtlicher Vater des jeweiligen Kindes ausgerichtet und somit darauf,
die Vaterschaft des existierenden rechtlichen Vaters anzufechten. Heiko Kautzor rügte
darüber hinaus die mangelnde Möglichkeit, seine mutmaßliche Vaterschaft festzustellen,
ohne den rechtlichen Status des Kindes anzufechten.
In der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten besteht Möglichkeit zur Anfechtung von Vaterschaftsanerkennung
Der Gerichtshof stellte fest, dass einer von ihm durchgeführten rechtsvergleichenden
Untersuchung zufolge mutmaßliche biologische Väter in einer Mehrheit der
Mitgliedstaaten des Europarats die Möglichkeit haben, die – durch
Vaterschaftsanerkennung festgestellte - Vaterschaft eines anderen Mannes anzufechten,
selbst wenn der rechtliche Vater in einer sozial-familiären Beziehung mit dem Kind lebt.
In einer signifikanten Minderheit von neun Mitgliedstaaten hingegen hat der mutmaßliche
biologische Vater keine Möglichkeit, die Vaterschaft des rechtlichen Vaters anzufechten.
Folglich besteht kein gefestigter Konsens und die Mitgliedstaaten verfügen daher über
einen weiten Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die Festlegung des rechtlichen Status
eines Kindes in einer entsprechenden Situation.
Entscheidungen der deutschen Gerichte zielten auf Wohl des Kindes ab
Zwar hatten die Beschwerdeführer Anspruch auf Schutz ihres Interesses an der
Feststellung eines wesentlichen Gesichtspunktes ihres Privatlebens und an dessen
rechtlicher Anerkennung. Die Entscheidungen der deutschen Gerichte hatten aber darauf
abgezielt, dem Willen des Gesetzgebers zu entsprechen, einem bestehenden
Familienverband zwischen dem betroffenen Kind und seinem rechtlichen Vater, der sich
regelmäßig um das Kind kümmert, Vorrang einzuräumen gegenüber der Beziehung
zwischen dem (angeblichen) leiblichen Vater und seinem Kind. Aus dem Urteil im Fall
Anayo gegen Deutschland ließ sich ableiten, dass die Mitgliedstaaten nach Artikel 8
verpflichtet sind zu prüfen, ob es im Kindeswohlinteresse liegt, dem leiblichen Vater die
Möglichkeit zu geben, eine Beziehung zu seinem Kind aufzubauen, etwa durch
Gewährung des Umgangsrechts. Daraus folgt aber nicht notwendigerweise eine
Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach der Konvention, biologischen Vätern die
Möglichkeit einzuräumen, den Status des rechtlichen Vaters anzufechten.
Feststellen der biologischen Vaterschaft ohne gleichzeitige Anfechtung der Vaterschaft des rechtlichen Vaters nicht vorgesehen
Im Hinblick auf den Fall Kautzor stellte der Gerichtshof fest, dass keiner der 26
Mitgliedstaaten, die er in seiner rechtsvergleichenden Untersuchung berücksichtigt hatte,
ein Verfahren vorsieht, um die biologische Vaterschaft festzustellen, ohne gleichzeitig die
Vaterschaft des rechtlichen Vaters anzufechten. Die Entscheidung, die Möglichkeit einer
solchen separaten Prüfung vorzusehen oder nicht, fiel folglich auch in den
Beurteilungsspielraum des Staates.
Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht verletzt
Der Gerichtshof zeigte sich darüber hinaus überzeugt, dass die deutschen Gerichte die
jeweilige Situation in beiden Fällen sorgfältig geprüft hatten. Folglich lag in beiden Fällen
keine Verletzung von Artikel 8 vor.
Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot im Hinblick auf das Wohl des Kindes nicht verletzt
Der Gerichtshof stellte fest, dass der Hauptgrund für die Ungleichbehandlung der
Beschwerdeführer im Vergleich zur Mutter, zum rechtlichen Vater und zum Kind
hinsichtlich der Möglichkeit, die Vaterschaft anzufechten – und im Fall Kautzor
hinsichtlich der Möglichkeit, einen Gentest zu verlangen – in der Absicht lag, das
jeweilige Kind und seine soziale Familie vor äußerer Beeinträchtigung zu schützen. In
Erwägung seiner Schlussfolgerungen hinsichtlich Artikel 8 kam der Gerichtshof zu der Auffassung, dass die Entscheidung, einem bestehen Familienverband zwischen dem
betroffenen Kind und seinen rechtlichen Eltern Vorrang einzuräumen gegenüber der
Beziehung zu seinem biologischen Vater, soweit dessen rechtlicher Status betroffen war,
in den Beurteilungsspielraum des Staates fiel. Folglich lag in beiden Fällen keine
Verletzung von Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 vor.
- Eine weitere Entscheidung zu diesem Thema:
- Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte stärkt Rechte von leiblichen Vätern im Umgang mit ihren Kindern ( Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil [Aktenzeichen: 17080/07] )
- Bundesgerichtshof Urteil [Aktenzeichen: XII ZR 136/09]
- EGMR: Biologischer Vater hat Anspruch auf Umgang mit seinen Kindern ( Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil [Aktenzeichen: 20578/07] )
Angaben zum Gericht:
- Gericht:Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
- Entscheidungsart:Urteil
- Datum:22.03.2012
- Aktenzeichen:45071/09 und 23338/09
Quelle:Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online